Auf ein Neues
Wie oft kann man die Richtung in seinem Leben ändern? Oft! Und nicht nur in den kleinen Dingen, sondern auch den großen Entscheidungen. Karlheinz Wilkel hatte niemals Scheu davor, Orte zu wechseln und Berufe. Denn nur wer sich ändert, bleibt sich treu.
„Wir wollten uns verändern.“ Karlheinz Wilkel sagt diesen Satz jetzt, mit 83. Er sitzt auf einem Sessel, in seinem Rücken ein bunt bepflanzter Balkon, der eher eine Terrasse ist, in der obersten Etage von Haus 7 im Immanuel Seniorenzentrum in Elstal. Die Sonne wirft ihr Licht in das großzügig geschnittene Wohnzimmer, dieser Sommer 2018 wird wohl nie enden, so scheint es, an der Wandschräge, links über Karlheinz Wilkels Kopf, steht ein Satz: „Das Gestern ist Geschichte, das Morgen ist ein Rätsel, das Heute ist ein Geschenk“, die drei Worte gestern, morgen, heute sind größer und geschwungener geschrieben als die übrigen, Karlheinz Wilkel spricht über eine Zeit, die 20 Jahre zurückliegt.
Dallgow-Döberitz und Dortmund
„Wir wollten uns die Häuser hier, das Gelände, die Landschaft darum, mal ganz unverbindlich angucken.“ Karlheinz und Irmgard, seine Frau, lebten zu diesem Zeitpunkt in Dortmund, waren im Grunde richtige Ruhrgebietler, ihre drei Kinder, ein Sohn, zwei Töchter, drei Enkel wohnen dort, mit über 60 zieht man ja nicht einfach 600 Kilometer weit weg.
„Uns gefiel die Ruhe“, erzählt Irmgard, „der Geruch der Nadelwälder und des märkischen Sandes. Etwas hier erinnert mich an Schweden, an Småland, wohin wir 35 Jahre lang, immer für drei, vier Wochen, in die Ferien gefahren sind. Und Berlin ist ja auch nur einen Katzensprung entfernt.“ Hinzu kam, dass Karlheinz mit dem früheren technischen Leiter der Anlage befreundet war. Der suchte damals Fachkräfte, sogenannte ehrenamtliche Bauhelfer, die ihn bei der Restaurierung und Renovierung der Häuser unterstützten. Karlheinz war eine solche Fachkraft. Ein Schreiner. Und er hatte, als Rentner, Zeit. 1000 Türen mussten eingesetzt werden, der gesamte Schlüsselplan entworfen und mit der zuständigen Firma besprochen werden. Eine Menge Arbeit.
Karlheinz und Irmgard machten sich auf den Weg, um sich die Sache genauer zu besehen. Und während sie herumspazierten, nicht nur durch Elstal, sondern auch die Nachbargemeinde Dallgow-Döberitz, stieg unvermittelt eine Erinnerung in Irmgard auf: Hier, in diesem Ort, unter diesen Nadelbäumen, auf diesem märkischen Sand, war ihr Vater 1944 stationiert gewesen. Ihr Vater, den sie kaum gekannt hatte, da er wenig später umkam.
Der Umzug also war beschlossen: Das Gestern, das Morgen, das Heute würden zusammenfließen, würden etwas Neues ergeben und gleichzeitig mit dem Vergangenen ein Jetzt bilden.
Karlheinz fuhr vor, um bei den Bauarbeiten zu helfen, Irmgard bereitete die Abreise in Dortmund vor, und dann bezogen sie ihre Dachgeschosswohnung mit Blick auf den Wald.
Holzwurm und Heim
Herrlich, die Stille. Bis auf den Gesang der Vögel kein Laut. Was man von Dortmund nun wahrlich nicht behaupten konnte. Denn in Dortmund leitete Karlheinz 25 Jahre lang ein Berufsschulheim, ein Internat für Brauerei- und Mälzerlehrlinge, fast ausschließlich Jungs, jeweils 70 bis 100.
Sein Berufsfeld erschöpfte sich nämlich nicht allein in der Schreinerei, sondern erstreckte sich weiter auf das Gebiet des Erziehers und Heimleiters. Als Tischler hatte er ununterbrochen auf Montage arbeiten müssen, auf Messen, im Ausland. Was abwechslungsreich war. Doch während er reiste, kümmerte sich Irmgard allein um die Kinder. Das wollte er ändern.
Und entdeckte eines Tages diese Annonce in der Zeitung: Erzieher für das „Paulusheim“ gesucht. Ein kompletter Wechsel? Das Vergangene hinwerfen, etwas Neues beginnen? Ja! Er überlegte nicht lange. Zunächst absolvierte eine Ausbildung zum Erzieher und fügte später noch einen zweiten, speziellen Bildungsgang für Leitungsaufgaben hinzu.
Die gesamte Familie zog in den Internatskomplex, in einen separaten Bungalow, Irmgard leitete den Hauswirtschaftsbereich, sie waren von früh bis spät erreichbar, die Lehrlinge nannten sie „Heimeltern.“ Manche Azubis zeigten sich naturgemäß ein wenig wilder als andere, probierten sich aus, mit 18, 19, zum ersten Mal weg von den eigenen Eltern. Aber Karlheinz hatte diese besondere Art, mit ihnen umzugehen, auf sie zuzugehen. Auch halfen ihm seine Erfahrungen im Umgang mit den Menschen aus den Zeiten als Tischler.
Die Kundschaft war ja nicht immer unkompliziert, selbst mit Hilda Heinemann, der Ehefrau des dritten Bundespräsidenten, „einer sehr, sehr selbstbewussten Person“, wie sich Karlheinz ausdrückt, hatte er keinerlei Probleme, was so weit ging, dass sie ausdrücklich darauf bestand, die Arbeiten in ihrem Haus allein von ihm ausführen zu lassen. „Man muss die Leute, indem was sie wollen, erfassen“, erklärt er, der später auch Mietersprecher im Seniorenzentrum wurde. Und natürlich kam ihm auch sein handwerkliches Geschick im Heim zugute. Denn zu renovieren, zu reparieren gab es immer etwas.
Er hatte ja alles gelernt während seiner Lehre, von der Herstellung eines Biedermeierstuhls bis zum Dachausbau. „Mein Mann ist ein Holzwurm“, sagt Irmgard und weist auf eine Schrankwand aus Palisanderholz, ein präzise gearbeitetes Möbelstück, von Karlheinz selbst gefertigt, in der Vergangenheit, unverändert geschmackvoll und stabil im Heute, und auch für die Zukunft.